Ein Traum, der ein Traum bleibt, eben weil er nicht zur banalen Realität verkommt, ist doch der edelste aller Träume. (u. a. S. 232)

 

Cover: Der Klang der Erde

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Lübeck 1911. Ein gewisser Wilhelm Furtwänlger wird der neue Dirigent des hiesigen Orchesters. Max Auerbach, Geiger in demselben, träumt von einer Karriere als Komponist. Im Stillen verehrt er das Fräulein Sara, das er durch eine Komposition beeindrucken will. Da hört er vom Tode Gustav Mahlers und davon, das Bruno Walter in München „Das Lied der Erde“ uraufführen will. Eine Musik zu Texten, die Auerbach selbst vertonen will. Jetzt gibt es für ihn nur noch eines: er muß diese Uraufführung verhindern, koste es was es wolle. So nimmt das Verhängnis seinen Lauf.  

 

 

Kommentar / Meine Meinung

„Es gibt auch die Wunde Mahler; sie will und wird sich nicht schließen, solange es eine menschliche Gesellschaft gibt, die der Versöhnung ermangelt. Von diesem Mangel spricht Mahlers Musik so deutlich wie kaum eine zweite.“ So endet Jens Malte Fischers Mahler-Biographie, und daran mußte ich bei diesem Buch denken.

Am Ende vom „Klang der Erde“ angelangt habe ich das Gefühl, am Beginn der c-moll Sinfonie (2., „Auferstehungssinfonie“) zu stehen, deren „furchtbare Fragen und die Stimmung am Ende des ersten Satzes“ (Gustav Mahler) je nach Aufnahme erst rund achtzig Minuten später gegen Ende des Finalsatzes beantwortet werden. Ob alle Fragen dieses Buches am Ende jedoch beantwortet sind, da bin ich mir nicht so sicher.

Nun, handlungsmäßig sind gewiß, auf der letzten Seite angekommen, alle offenen Fäden verknüpft und auch das weitere Schicksal der Figuren bekannt bzw. angedeutet. Zu manchen kann man sich denken, was passieren könnte, zieht man die Zeit und die kommende Jahre in Betracht. Aber das ist nicht (mehr) Thema des Buches.

„Ob als Schriftsteller oder als Komponist, nicht das Werk zählt, sondern die öffentliche Meinung.“ (S. 34) Oder das, was sich für die „öffentliche Meinung hält“, bin ich geneigt zu ergänzen. Was das für Folgen haben kann, wird in einer geradezu gespenstischen Szene in München bei Proben zu Mahlers „Das Lied von der Erde“ eine Bestätigung finden. Überhaupt Mahler.

Der Untertitel lautet „Ein Gustav Mahler Roman“, und ich habe einige Zeit sinniert, inwieweit ein solcher zutreffend sein kann, taucht Mahler selbst doch kein einziges Mal in diesem Buch auf, beginnt es eigentlich erst zum Zeitpunkt seines Todes. Und dennoch findet die Bezeichnung ihre Bestätigung in der Mahlerschen Musik, auf die immer wieder interpretierend Bezug genommen wird. Eine gewisse „wohlwollende Nähe“ zu Mahler und seinem Werk ist beim Lesen sicherlich förderlich, noch besser wäre es, „Das Lied von der Erde“ zu kennen. Aber vielleicht genügt auch eine positive Stimmung zur klassischen Musik, denn man wird vielen bekannten Namen begegnen.

Dieter Bührig läßt in seinem Roman die Welt um 1911 lebendig werden. Wilhelm Furtwänger wurde soeben als Kapellmeister ans Pult des „Orchester des Vereins der Musikfreunde“ berufen und trifft ein. Aber das ist nicht die einzige, auch heute noch bekannte Person, der im Buch eine Rolle spielt. Bruno Walter sei erwähnt, oder auch Ida Boy-Ed und ihr Salon. Der Roman wird durch etliche Anmerkungen zu eben jenen auftretenden Personen wie auch zu örtlichen Gegebenheiten und historischen Ereignissen ergänzt; ich war überrascht, wie viel Tatsächliches der Autor in die fiktive Romanhandlung verwoben hat. Das einzige, was mir fehlte, war ein erklärendes Nachwort, in welchem genauer auf Fakt und Fiktion eingegangen wurde.

Max Auerbach leidet an einer „Dissoziativen Identitätsstörung“, die zumindest mir bis zum Lesen dieses Romans noch nicht begegnet war. Die Szenen, in denen „der Andere“ die Regie übernimmt, sind von einer beunruhigenden Düsternis und manchmal ist der Leser genau so verunsichert, wie es Auerbach ist, wenn er wieder zum „Normalzustand“ zurückkehrt, was nun Realität ist und was nicht.

Wer Furtwängler einmal in Filmaufnahmen bei Dirigieren gesehen hat, mag manchmal irritiert gewesen sein, wie bei solchem Dirigat das Orchester zu Höchstleistungen angespornt wurde. Bührig beschreibt die für Furtwängler typische Art des Dirigierens dermaßen eindringlich, daß ich den Maestro vor meinem geistigem Auge gesehen, das Orchester musizierend seine Wünsche erfüllen gehört habe. Überhaupt - das ist einer der Vorzüge dieses Romans - merkt man dem Autor seine Fachkenntnis in Sachen Musik an, egal ob es nun um Mahler oder eine Beethoven Sinfonie geht. Die Beschreibungen der Musikwerke waren dermaßen anschaulich, daß schon beim bloßen Lesen die Musik vor dem inneren Ohr erstand. So gut und einfühlsam sind mir solche bisher selten bis gar nicht begegnet.

Aus diesen Ingredienzen - Auerbachs Persönlichkeitsstörung und der musikalischen Welt von 1911 - hat Bührig einen stimmungsvollen Roman geschaffen, der mich für einige Stunden in jene Zeit versetzt hat. Es tauchen so viele bekannte Namen auf, daß ich mich unwillkürlich gefragt habe, wie es wohl von heute an in hundert Jahren sein wird. An wen wird man sich dann noch erinnern? Welche heute geschaffenen Werke werden so lange Bestand haben?

„Der Mensch betritt völlig zufällig und unerwartet das Karussell des Lebens, dreht sich ein paar Minuten hilflos und ziellos herum, bis er plötzlich wieder verschwindet.“ (S. 36) Aber genau diese „paar Minuten“ machen für jeden Einzelnen eben sein Leben aus, voll von Zwängen, Wünschen, Träumen. Was das im Einzelnen bedeuten mag, auch das findet sich in diesem Roman, der nicht nur einen Zugang zur Musik Mahlers öffnen kann, sondern auch so manche Anstöße bietet, die den Leser nachdenklich zurück lassen.  

 

Kurzfassung

In diesem Stimmungsbild wird die (musikalische) Welt Lübecks um 1911 lebendig. Ein lesenswertes Buch, das in keine Schublade paßt.  

 

 

Über den Autor

Dieter Bührig ist in Hannover aufgewachsen, war als Tonmeister tätig, bevor er ein Aufbaustudium fürs Lehramt anschloß. Er war als Lehrer, Musikpädagoge und Chorleiter tätig und hat zahlreiche Zeitschriftenbeiträge veröffentlicht. Seit 2010 ist er auch als Romanautor tätig.  

Bibliographische Angaben

270 Seiten, kartoniert. Verlag: Gmeiner Verlag, Meßkirch 2011  

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