„Ich glaube - und finde es täglich bestätigt -, daß wir auf dieser Welt nichts von dauerhaftem Wert erlangen können, nicht einmal einen Grundsatz oder eine Überzeugung, ohne durch ein läuterndes Feuer oder eine stärkende Gefahr gegangen zu sein.“ (Seite 776)

 

Cover: ShirleyZum Inhalt

Die Handlung spielt 1811/1812 während der Kontinentalsperre und der Arbeiterunruhen in der nördlichen Grafschaft Yorkshire. Vor diesem Hintergrund wird die Geschichte von Shirley Keeldar, einer Guts- und Fabrikbesitzerin, der Pfarrersnichte Caroline Helstone, des Tuchfabrikanten (und Pächters von Shirleys Fabrik) Robert Moore sowie dessen Bruder Louis Moore erzählt. Diese vier sowie etliche weitere, hier nicht genannte Figuren, müssen mit den schwierigen Zeit- und Lebensumständen zurecht kommen. Teils mit, teils gegen die damaligen Konventionen. Neben Sozialkritik, die die Autorin mit eingearbeitet hat, kommt der Humor nicht zu kurz.

 

 

 

Meine Meinung

Ein wunderbares Buch, das mich zu meiner Überraschung ganz in seinen Bann gezogen hat. Denn eigentlich war ich bei Lesebeginn gedanklich noch im „Wilden Westen“. Aber der Autorin ist es gelungen, mich relativ schnell von dort (um 1861) weg und ins England der Jahre 1811/1812 zu holen und mich fast schon heimisch fühlen zu lassen. Dabei stößt „Shirley“ anscheinend auf ein recht geteiltes Echo. Auch nach Beendigung des Lesens gehöre ich auf jeden Fall zu der Fraktion, die von dem Buch begeistert ist. So begeistert, daß das bei mir sogar das Potential zum Jahreshighlight hat.

Wenn man in einem Roman eine feste Hauptfigur erwartet, wird man hier so seine Schwierigkeiten bekommen. Die titelgebende Figur taucht in meiner Ausgabe erst nach über zweihundertvierzig Seiten das erste Mal auf; bis dahin könnte man Caroline als Hauptfigur bezeichnen. Dieser Wechsel wird sich bis zum Ende nicht verändern - oder anders, es bleibt jedem Leser selbst überlassen, wen er nun als die Hauptfigur ansieht. Andererseits: muß ein Roman überhaupt eine Hauptfigur habe, wenn eigentlich eine Geschichte erzählt wird, in der mehrere Figuren eine wesentliche Rolle spielen?

Die Übersetzung von Andrea Ott macht einen ganz hervorragenden Eindruck - als ob das Buch im Original auf Deutsch geschrieben wäre. In einem wunderbaren Deutsch, wie man es heute - leider - kaum noch vorfindet. Alleine sprachlich ist es ein Genuß, den Roman zu lesen. Hinzu kommt der immer wieder aufblitzende Humor der Autorin, auch und gerade an Stellen, in denen sie die Leser direkt anspricht.

Die Geschichte entwickelt sich erfreulich langsam, ohne drängende Hektik; immer wieder gibt es ein Innehalten - also genau die Erzählweise, die ich in solchen Büchern so ungemein mag. Eingeflochten sind immer wieder Informationen zu den „Rahmenbedingungen“ in denen die Geschichte angesiedelt ist. Brontë hat diese recht genau recherchiert, so daß man ein gutes Bild von den damaligen Verhältnissen bekommt. Der Arbeiteraufstand, der im Buch eine Rolle spielt, hat seinerzeit in der Gegend tatsächlich stattgefunden - es war eine Hungerrebellion, da das einfache Volk durch die durch die Kontinentalsperre bedingten wirtschaftlichen Probleme sehr zu leiden hatte. Doch auch die „Hilfsgeistlichenschwemme“, die zu Beginn angedeutet wird, hat es zu der Zeit gegeben. Die Figuren sind fiktiv, jedoch erhält man beim Lesen eine recht genaue Vorstellung vom seinerzeitigen Leben.

Erstaunlich aktuell wird es, wenn es um die (damals beginnende) Industrialisierung geht. Die Wunschvorstellung, die Robert Moore an einer Stelle äußert, hat die Autorin in ihrer Auswirkung vermutlich vor Augen. Mit den sich daraus ergebenden weiteren Folgen haben wir heute zu tun und müssen irgendwie damit umgehen. Ob die Menschen vor zweihundert Jahren, hätten sie das volle Ausmaß der Folgen übersehen, wohl anders entschieden hätten? Wenn ich mir die heutige Generation so ansehe: vermutlich nicht.

Kurz vor dem Ende (S. 928) wurde es für mich dann hochemotional: „Ein einsames Fleckchen war das, und ein schönes Fleckchen, voller Eichen und Nußbäume. Jetzt hat sich alles verändert.“ Ich gebe zu, dieser Satz ging mir durch und durch. Ich habe inzwischen ein Alter erreicht, in welchem ich auch solche Betrachtungen anstellen könnte. Man will immer alt werden; aber plötzlich stellt man fest, daß man möglicherweise alt ist. (Und nach den Maßstäben der Zeit, in der „Shirley“ geschrieben wurde, bin ich alt.) Tempi passati.

Und so bleibt mir am Ende nur der Anfang: ein wunderbares Buch, das mich zu meiner Überraschung ganz in seinen Bann gezogen hat.

Mein Fazit

Ich weiß, ich wiederhole mich, doch mir fällt keine bessere Formulierung ein: ein wunderbares Buch, das mich zu meiner Überraschung ganz in seinen Bann gezogen hat. Auch heute unbedingt lesenswert.

 

Über die Autorin

Charlotte Brontë wurde am 21. April 1816 in Thornton (Yorkshire) als Tochter eines Pfarrers und seiner Frau geboren. AB 1835 war sie als Lehrerin, ab 1839 als Gouvernante tätig. Bereits seit ihrer Kindheit schrieb sie. Der erste veröffentlichte Roman war 1847 „Jane Eyre“, welcher unter dem Pseudonym Currer Bell erschien. Auch ihre weiteren Romane erschienen unter diesem Pseudonym. Sie heiratete 1854 und starb am 31. März 1855.

Bibliographische Angaben meiner gelesenen Ausgabe

960 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Originaltitel: Shirley. Aus dem Englischen von Andrea Ott
Verlag: Manesse Verlag, Zürich 1998; ISBN-10: 3-7175-1766-X; ISBN-13: 978-3-7175-1766-5

 

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