„Vielleicht sehen auch die Ältesten irgendwann ein, dass es nicht ausreicht, ein Unrecht als solches zu erkennen, sondern dass man etwas dagegen tun muss. Weil man Unrecht sonst möglich macht.“ (Seite 107f)

 

Cover "Der Himmel über Amerika - Esthers Entscheidung"Zum Inhalt

Es ist über vierzig Jahre her, daß die Amischen aus Schönthal nach Pennsylvania ausgewandert sind. Inzwischen ist die Enkelgeneration herangewachsen. Auch wenn die Amisch für sich leben, werden sie doch mehr und mehr in die aktuellen Tagesereignisse hineingezogen. Immer wieder tauchen entlaufene Sklaven auf der Flucht nach Norden auf, und schließlich beginnt der Sezessionskrieg.
Esther ist behütet aufgewachsen, aber wie ihre Großmutter Rebekka eher ein „Freigeist“ unter den Amisch. Als sie einen schwer verletzten Soldaten auf dem Grundstück findet, rettet sie ihn und pflegt ihn gesund. Durch den häufigen Kontakt bleibt ein sich Näherkommen nicht aus. Doch hätte eine Beziehung zwischen den beiden - einer Amisch und einem Südstaatensoldaten - überhaupt eine Chance?

 

 

 

 

Meine Meinung

Der Vorgängerband „Rebekkas Weg“ hat sich zu meiner Überraschung zum besten bis dato gelesenen Amisch-Roman entwickelt. So hatte ich an diese Fortsetzung hohe Erwartungen. Um es gleich vorweg zu nehmen: die Erwartungen wurden mehr als erfüllt, das Niveau wurde mindestens gehalten, vielleicht sogar noch gesteigert.

Die Geschichte ist zwei Generationen nach „Rebekkas Weg“ angesiedelt. Die Welt wie die Amisch haben sich verändert. Während bei den „Englischen“ der Sezessionskrieg in der Luft liegt und schließlich ausbricht, haben sich die Amisch immer mehr von der Außenwelt abgesondert und starke Tendenzen zu immer dogmatischerem Denken und Handeln hin entwickelt. Das muß unweigerlich auch zu internen Konflikten führen, denn es gibt weiterhin solche, die nicht so engstirnig eingestellt sind.

Esthers Bruder Ben bringt das an einer Stelle treffend auf den Punkt: „Und jetzt sind wir diejenigen, die Andersgläubige zwar nicht verfolgen, aber verstoßen. Wir haben unseren Weg verloren.“ (S. 256) Wenn ich mir die heutige Welt so anschaue, in der man ebenfalls massive Tendenzen hin zu einer gewissen Engstirnigkeit erkennen kann, frage ich mich, ob das eine Entwicklung ist, die überall fast schon zwingend abläuft. Ist der Mensch am Ende doch nicht zur Freiheit geeignet, sondern braucht ein enges Korsett?

Im Buch einen ersten „harten“ Kontakt zur Außenwelt gibt es, als entlaufene Sklaven auf ihrer Flucht nach Norden Unterschlupf suchen - und auch finden. Ben lernt, daß seine Großeltern Teil der „Underground Railroad“ sind, einer Organisation, die entflohenen Sklaven auf ihrem Weg in die Freiheit hilft. Zum ersten Mal wird er gezwungen, über die Verhältnisse außerhalb der kleinen Amisch-Welt nachzudenken: ist es richtig, diesen geschundenen Menschen zu helfen - oder sollte man sie ihrem Schicksal überlassen, weil einen das nichts angeht?

Zu einer wirklichen Konfrontation der Welten kommt es später, als der Sezessionskrieg im vollen Gang ist. Esther findet einen verwundeten Südstaatensoldaten Jack und nimmt ihn, obgleich nicht alle begeistert sind, auf, um ihn gesund zu pflegen. Wieder taucht die Frage auf, ob man sich abschotten und die „Welt da draußen“ nicht beachten soll oder ob es die christliche Nächstenliebe erfordert oder gar verlangt, einem Verwundeten zu helfen. Zumal es immer offensichtlicher wird, daß sich zwischen Jack und Esther zarte Bande entwickeln - etwas, was eigentlich nicht sein darf.

Wie schon im Vorgängerband, so gibt es auch hier keine Glorifizierung oder Verherrlichung, sondern ich hatte das ganze Buch über das Gefühl, daß die Figuren - hätte es sie denn gegeben - genau so gedacht und gehandelt hätten, wie es die Autorin geschrieben hat. Es sind Menschen wie Du und ich mit ihren Sorgen, Problemen und Nöten, mit ihren Wünschen und Hoffnungen, mit Freud und Leid. Und immer gilt es die Ordnung zu beachten, die immer strenger werdenden Regeln der Amisch.

Wenn Denken und/oder Handeln mit der Ordnung in Widerspruch geraten, ergeben sich teils heftige (Gewissens-)Konflikte, mit denen umgegangen werden muß. Auch hier hat die Autorin die Figuren so denken und handeln lassen, daß ich es zu jedem Zeitpunkt als absolut folgerichtig und nachvollziehbar empfunden habe - selbst dann, wenn ich mit so mancher Einstellung oder Handlungsweise so mancher Figur durchaus nicht einverstanden war. Aber gerade dadurch erreicht die Autorin eine hohe Glaubwürdigkeit der Erzählung, die mich für knapp dreihundertfünfzig Seiten abtauchen ließ in die Welt der Amisch zu Zeiten des amerikanischen Bürgerkrieges und der Probleme, die sich aus dem Zusammenstoß der inzwischen recht gefestigten Amischwelt mit derjenigen der „Englischen“ in jenen turbulenten Jahren ergaben.

Mein Fazit

Mit großem Einfühlungsvermögen und ohne jede Glorifizierung erzählt die Autorin die Geschichte einer Liebe in turbulenten Zeiten, die in der Welt der Amisch nicht sein darf. „Der Himmel über Amerika“ ist einer der besten, vielleicht sogar der beste Amisch-Roman, den ich je gelesen habe.

 

Über die Autorin

Karin Seemayer, geboren 1959, machte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau und war beruflich und privat viel unterwegs. Die meisten ihrer Romanideen sind auf diesen Reisen entstanden. Allerdings musste die Umsetzung der Ideen warten, bis ihre drei Kinder erwachsen waren. Heute lebt Karin Seemayer im Taunus.

Bibliographische Angaben

347 Seiten, kartoniert
Verlag: Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 2021; ISBN-13: 978-3-7466-3757-0

 

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