Dieser Tunnel wird ein Jahrhundertbau. Er wird Europa verändern. (Seite 47)

Cover: BergleuchtenZum Inhalt

Als 1872 der Bau der Gotthard-Tunnels beginnt, verändert sich in Göschenen alles. Aus dem ruhigen Bergort wird eine geschäftige Baustelle, zu der immer mehr Arbeiter, teils mit ihren Familien, strömen. Das Leben der Bewohner verändert sich, und nicht alle sind damit einverstanden.
Besonders die Fuhrhalter bangen um ihre Existenz, wenn der Tunnel erst fertig ist. Der Fuhrhalter Franz Herger sieht aber auch die Chancen und will während der Bauzeit so viel als möglich verdienen, um für die Zeit danach gerüstet zu sein. Seine Tochter Helene begleitet ihn dabei oft auf den Fahrten. Ein Zusatzeinkommen bietet die Vermietung eines Zimmers an den Mineur Piero. Was allerdings niemand vorausgesehen hat ist, daß Helen und Piero sich näher kommen, auch wenn deren Eltern eine Verbindung niemals erlauben würden. Doch so einfach wäre das ohnehin nicht, denn die Arbeit im Tunnel wird immer gefährlicher und fordert bald die ersten Toten.

 

 

 

 

Meine Meinung

Bergleuchten. Es sei zugegeben, daß ich mit diesem Titel und diesem Cover so manchen Romaninhalt verbunden habe, aber gewißlich nicht das, was mich dann erwartet hat. Dabei passen Titel wie Coverabbildung, wie man so schön sagt, wie die Faust aufs Auge. Die Abbildung entstammt einem Werbeplakat der SBB für die Gotthardbahn, und auch der Buchtitel wird bald verständlich.

Von der Autorin hatte ich bisher die großartige und unbedingt empfehlenswerte Amisch-Trilogie gelesen. Ich war einerseits gespannt, wie sie an dieses so ganz andere Thema (Eisenbahntunnelbau) herangeht und andererseits, ob dies mit ähnlich hohen Niveau wie bei den Amisch-Büchern geschieht. Um es gleich vorweg zu nehmen: die Antwort auf Letzteres lautet eindeutig „ja“. Die Autorin bringt dem Leser ein eisenbahnhistorisches Thema so gekonnt nahe, daß man in einen spannenden Roman verpackt quasi nebenbei eine ganze Menge über den Bau von Tunneln lernt. Sicher baut man die heute ganz anders als im 19. Jahrhundert, aber die grundlegenden Probleme wie Wassereinbruch oder Belüftung sind heute die selben wie damals.

Schade allerdings, daß der Verlag dieser inhaltlich so guten Publikation nicht die notwendige Sorgfalt hat angedeihen lassen. Selten habe ich ein Buch gelesen, das dermaßen vor Satzfehlern strotzt wie dieses - offensichtlich hat man das Korrektorat eingespart. Dabei hätte man beim Lesen des Manuskriptes schon erkennen können, daß Sparen am falscher Stelle dem Endergebnis abträglich ist. Auch wäre eine Landkarte für Menschen wie mich, die von der Geographie der Schweiz eher wenig Ahnung haben, sehr hilfreich gewesen. Eine einfache Zeichnung hätte es schon getan; ich habe meine Eisenbahnbibliothek „befragt“ und bin fündig geworden.*

Über den Bau von Eisenbahntunneln habe ich mir, es sei zugegeben, nie sonderlich Gedanken gemacht, obwohl ich mich seit meiner frühen Kindheit für die Eisenbahn an sich interessiere. Das könnte sich nach der Lektüre dieses Romans allerdings ändern. Die Autorin hat auf grandiose Weise ihre Romanhandlung mit Informationen über den Bau eines Tunnels verbunden, so daß man am Ende des Buches eine ungefähre Vorstellung davon hat, mit welchen Problemen die Tunnelbauer zu rechnen haben und was zu berücksichtigen ist. Es versteht sich, daß das nicht so weit geht, daß man selbst einen Tunnel bauen könnte, aber in groben Zügen kann man die Thematik nachvollziehen.

Recht bald wird deutlich, daß es bei so einem Unterfangen nicht nur beim Bau, sondern auch in der Umgebung Schwierigkeiten auftreten. Göschenen war ein „verschlafenes Bergdorf“; doch als der Bau begann, strömten hunderte, wenn nicht gar tausende fremder Arbeiter, meist aus Italien, hierhin, und alles veränderte sich. Diese mußten untergebracht und versorgt werden und wollten ihre Freizeit verbringen. Zudem waren nicht alle Einheimischen mit dem Bau einverstanden, vor allem nicht die Fuhrhalter, die um ihre Existenz bangten. Streitigkeiten und unschöne Szenen bleiben nicht aus, Freunde entzweien sich, neue Bündnisse entstehen.

Es ist eigentlich wie heute noch: die Einen sind dafür, die Anderen dagegen und bringen dies mehr oder weniger drastisch zum Ausdruck. Und dann gibt es die, welche die Gunst der Stunde für ihr Geschäft nutzen und auch die letzte freie Kammer zu Wucherpreisen vermieten. Also eigentlich nichts Neues und alles wie seit Jahrhunderten gehabt.

Nun wird die Handlung nicht von einer Baustelle, sondern von Figuren getragen. Viele davon haben historische Vorbilder, wie auch die meisten der geschilderten Ereignisse historisch belegt sind. Man mag gar nicht glauben, daß die Familie Herger mit Helene, Piero oder Peter Gisler fiktive Gestalten sind, so gut hat die Autorin deren Schicksal ins Buch eingewebt. Man freut sich mit ihnen, hadert mit ihnen, leidet mit ihnen. Und das ist auch mein einziger Kritikpunkt: es ist eine Menge Drama enthalten, so daß es mir mit dem Dramafaktor irgendwann zu viel des Dramas wurde. Etwas weniger davon hätte mir besser gefallen, die Nerven geschont und der Qualität des Buches keinen Abbruch getan. Aber das ist möglicherweise Ansichtssache.

Es mag seltsam klingen, aber bei allem Drama wurde das Buch dann plötzlich doch hochemotional. Erstaunlich deshalb, weil zu meinem eigenen Erstaunen das Emotionalste in diesem Buch - ein Loch war. Ein einfaches Loch durch Fels und Gestein. Ein Nichts - und manchmal doch Alles.

Davon (vom Dramafaktor) abgesehen hat mir der Roman außerordentlich gut gefallen. Sollte ich jemals durch den Gotthardtunnel fahren (was allerdings eher unwahrscheinlich ist), werde ich sicherlich an dieses Buch denken und eine Vorstellung davon haben, wie er erbaut wurde.

 

Mein Fazit

Umrahmt von einer fesselnd erzählten Geschichte um Helene Herger und ihre verbotene Liebe Piero entwirft die Autorin ein überaus lebendiges Bild vom Bau des Gotthardtunnels und der Leistung, die dahinter steckt. Sei es die der Ingenieure, vor allem aber die der einfachen Arbeiter. Unbedingt lesenswert.

 

 

Über die Autorin (Verlagsangabe)

Karin Seemayer, geboren 1959, machte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau und war beruflich und privat viel unterwegs. Die meisten ihrer Romanideen sind auf diesen Reisen entstanden. Allerdings musste die Umsetzung der Ideen warten, bis ihre drei Kinder erwachsen waren. Heute lebt Karin Seemayer im Taunus.

Anmerkung und Bibliographische Angaben

* = „Enzyklopädie des Eisenbahnwesens in 10 Bänden“ von Dr. Freiherr von Röll, Band 5, Karten Seiten 355 und 362, Artikel „Gotthardbahn“ und „Gotthardtunnel“; 2. neu bearbeitete Auflage, Urban & Schwarzenberg Berlin/Wien 1914; Nachdruck Archiv Verlag, Braunschweig 2000

477 Seiten, kartoniert
Verlag: Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2023; ISBN-13: 978-3-7466-3984-0

 

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