„Wir alle haben das Recht, so abzutreten, wie wir wollen.“ (Seite 51)

Cover: Das weite Herz des LandesZum Inhalt

Frank, 16 Jahre alt, kennt seinen leiblichen Vater Eldon kaum, da er bei einem „Pflegevater“ auf dessen Farm aufwächst. Nun, dem Tode nahe, wünscht sein trunksüchtiger Vater, daß Frank ihn zum Sterben ins Gebirge bringt, wo er wie ein Krieger begraben werden möchte.
Widerstrebend macht sich Frank mit Eldon auf den Weg. Unterwegs erzählt Eldon seinem Sohn seine Lebensgeschichte - was mit viel Hoffnung begann, hat in einer Katastrophe geendet. Am Ende des Weges weiß Frank um seine Herkunft und sein Erbe.

 

 

 

 

 

Meine Meinung

Buch ausgelesen. Begeistert, benommen, bewegt - und sprachlos. Was ging mir beim Lesen nicht alles durch den Kopf, welche Emotionen haben mich bewegt - und jetzt habe ich keine Ahnung, wie ich dem Buch auch nur annähernd in Worten gerecht werden kann.

Während des Lesens hat sich mehr und mehr ein Begriff in meinem Kopf festgesetzt: Storyteller. Ein Begriff, der sich in seiner vollen Bedeutung nicht ins Deutsche übersetzen läßt; „Geschichtenerzähler“ gibt die Bedeutung nur unvollständig wieder. Ich habe vor vielen Jahren einem Storyteller zu hören dürfen. Ich weiß davon nicht mehr allzuviel, nur daß ich wie gebannt seinen Worten gelauscht und für die Zeit der Erzählung völlig in einer anderen Welt „gefangen“ war. (Übrigens wird Wagamese im Nachwort dann auch als „storyteller“ bezeichnet, vgl. S. 282).

Nicht übersetzbar ist auch der Originaltitel „Medicine Walk“. Der Begriff „Medizin“ steht in diesem Zusammenhang für eine „geheimnisvolle, transzendente Kraft hinter allen sichtbaren Erscheinungen“ (Quelle: Wikipedia). Als ich diesen Originaltitel las, wurde mir bewußt, daß es in diesem Roman um deutlich mehr als den letzten Weg eines Menschen zu seinem Grab geht. Womit ich beim nächsten „Problem“ bin: ein Buch mit so viel Leid und Schmerz - kann man das eigentlich als „schön“ bezeichnen? Kann man da von „Lesefreude“ sprechen (ein „Leid“ war das Lesen sicherlich nicht)? 280 Seiten Sterben - und doch geht es eigentlich und ursprünglich um das Leben. Das Leben, das vor dem Sterben kommt.

Auffällig ist, daß die handelnden Figuren nur selten mit ihrem Namen genannt werden, meist ist vom „Alten“, vom „Jungen“, vom „Vater“ die Rede - ein Zeichen dafür, daß es nicht um konkrete Figuren, sondern allgemein um Menschen, deren Denken und Handeln und den Auswirkungen auf das eigene Leben wie das von anderen Menschen geht?

Man sollte sich auf Einiges gefaßt machen, wenn man sich mit dem Jungen auf die Reise zu dem Platz begibt, den sich sein Vater zum Sterben und dort beerdigt werden ausgesucht hat. Denn während dieser Tage, in denen der Vater zusehends schwächer wird, erzählt er seinem Sohn, der seinen Vater bisher nur als gewissenlosen Trunkenbold kannte, seine Lebensgeschichte. Mit allen Höhen, vor allem jedoch den Tiefen, die er durchlebt und durchlitten hat. So erfährt er erstmals auch von seiner Mutter, wer und wie diese war, und weshalb er die nie kennengelernt hat.

Immer wieder bin ich beim Lesen hängen geblieben, mußte das Gelesene auf mich wirken und sich setzen lassen, bis ich den Figuren auf ihrem weiteren Weg folgen konnte. Ich habe im Verwandtenkreis die Folgen von Alkoholismus erlebt, aber erst die Schilderungen Wagameses (möglicherweise teilweise auch aus eigener Erfahrung) ließen mich manches bisher Unverständliche verstehen.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich an die Erzählweise Wagameses gewöhnt hatte. Aber das (anfängliche) Durchhalten hat sich mehr als gelohnt. Der Autor hatte das Talent, mit wenigen Worten oder Sätzen Figuren, Landschaften oder Handlungen so zu beschreiben, daß man das Gefühl hatte, mitten drin dabei zu sein. Die Figuren nahmen Gestalt an und erwachten zum Leben, die Landschaften entfalteten sich vor dem inneren Auge in ihrer Pracht oder auch Schäbigkeit, die Handlungen und Gedanken schienen sich geradezu zwanghaft folgerichtig zu ergeben und zu entwickeln.

Es ist eine Weile her, daß ich ein dermaßen intensiv erzähltes Buch gelesen habe. Es bedurfte eine wirklichen Storytellers, die Geschichte von Frank, Eldon und Bunky so zu erzählen, daß sie deren Leben gerecht wurde. Denn am Ende bleibt doch nichts übrig als unsere Geschichte. Und die Hoffnung, daß diese irgendwann einmal erzählt werden wird.

 

 

Mein Fazit

„Mehr sind wir letztlich auch nicht. Nur unsere Geschichten.“ (S. 120) Die Geschichte von Eldon, Frank und Bunky gibt Anlaß, über unsere eigene Geschichte nachzudenken. Ein großartiges Buch voller Tiefgang und Lebensweisheit.

 

 

Über den Autor

Richard Wagamese wurde 1955 im Nordwesten Ontarios geboren; er gehörte der Nation der Ojibwe an. Im Alter von zwei Jahren wurde er von seiner Familie getrennt und kam in Pflegefamilien, wurde später adoptiert. Dabei wurde mit aller Gewalt versucht, ihm seine indianische Herkunft und Erbe „auszutreiben“; seine Eltern und Geschwister sah er erst mit 23 Jahren wieder. Nachdem er sein Erlebnisse erzählt hatte, erhielt von einem Elder der Ojibwe den Namen „Buffalo Cloud“ und den Auftrag, Geschichten zu erzählen. Er war drei Mal verheiratet und hatte zwei Söhne. Er lebte in Kamloops, British Columbia. Im Jahr 2010 wurde ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. Er war im Laufe seines Lebens u. a. als Journalist tätig und erhielt mehrere Auszeichnungen für seine Arbeit, ferner hat er mehrere Bücher veröffentlicht. Wagamese starb am 10. März 2017.

Bibliographische Angaben meiner gelesenen Ausgabe

288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Originaltitel: Medicine Walk
Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herztke. Nachwort von Katja Sarkowsky
Verlag: Karl Blessing Verlag, München 2020; ISBN-13: 978-3-89667-666-5

 

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