Gerade bei der Erinnerung an die damalige Zeit wird deutlich, wie sehr doch die Technik dem Menschen von heute vertraut geworden ist, wie sehr aber auch - und das erscheint mir besonders bemerkenswert - der Nimbus der Eisenbahn verblaßt ist. (Seite 14)

 

Cover: Bekenntnisse eines Eisenbahn-NarrenZum Inhalt

„Der normale Sterbliche macht sich nicht im entferntesten eine Vorstellung davon, wie anstrengend es ist, ein Eisenbahnnarr zu sein und was für Komplikationen mit diesem Zustand verbunden sind.“ So beginnt der Rückseitentext, und wenn man Maedels Buch liest, wird einem recht bald klar, wie zutreffend das ist. In einzelnen Episoden, die in den frühen Zwanziger Jahren beginnen und bis in die ersten Sechziger Jahre reichen, erzählt Maedel in seinem unnachahmlichen, leicht melancholischen Stil Begebenheiten aus seinem Leben. Der geographische Bogen spannt sich von Mitteldeutschland über Ostpreußen bis hin ins Rheinland, von den „wilden Zwanzigern“ über die Jahre in Nazideutschland, Kriegserlebnisse bis hin in die Nachkriegszeit. So erzählt er ein sehr persönliches Stück Zeitgeschichte - gesehen durch die „Narrenbrille“ eines Eisenbahnverrückten.

 

 

Meine Meinung

Es ist nun schon wieder über fünfzig Jahre her, daß dieses Buch in seiner ersten Auflage erschienen ist. Und bald ein halbes weiteres Jahrhundert zurück gehen die darin enthaltenen Erzählungen. Vergangenheit erzählt aus der Sicht der Vergangenheit - wer wird da nicht von einer gewissen Wehmut ergriffen? Aber vielleicht muß man auch ein Narr sein, ein Narr wie der Autor, um ganz zu verstehen, welch Juwel sich hinter den so harmlos aussehenden Einbandseiten verbirgt. Aber mit Narren wären weder Kriege zu führen noch welche zu gewinnen. „Denn sie würden [den Krieg] über einer alten S6 glatt vergessen.“ (S. 229) Doch ich greife vor.

Es war in gewisser Weise durchaus befremdlich zu lesen. Karl-Ernst Maedel wurde wenige Monate nach meinem Vater geboren, rund neununddreißig Jahre vor mir, und doch kamen mir die Geschichten, die er aus seiner frühen Kindheit erzählte, so ungemein vertraut vor. Etwa das Erwachen des Interesses für die Eisenbahn. Denn ich bin neben einem kleinen Güterbahnhof aufgewachsen, der Morgens und Abends von einem dampfbespannten Zug bedient wurde. Zwar war das schon die Zeit, in der das Buch endet und für die der Autor den deutlich sichtbar beginnenden Niedergang der Dampftraktion geschildert hat, aber Faszination konnten die Ungetüme auch da noch ausüben; mit jedem Auspuffschlag haben sie den „Eisenbahnvirus“ in die Atmosphäre geschleudert und verbreitet. Und wer von diesem einmal befallen wurde, wird die „Krankheit“ ein Leben lang nicht mehr los, wie Maedel so unnachahmlich wieder und wieder zu beschreiben vermag.

Der Autor beginnt mit frühesten Kindheitserinnerungen aus der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre - den goldenen, wie sie oft genannt werden. Aber nicht alles ist Gold, was glänzt, da hilft auch die verklärende Erinnerung nicht immer. Die Namen der Großen - oder denen, die sich selbst für solches hielten bzw. von anderen dafür erachtet werden - kennt man. Aber was ist mit den vielen unscheinbaren, unbekannten Menschen, die ihr tägliches Leben irgendwie zu meistern versuchten, die in den Wirren der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges, der Wirtschaftskrise und dann des Tausendjährigen Reiches, das schon nach zwölf Jahren in Schutt und Asche versank, einfach nur leben, überleben wollten? Wer weiß heute noch etwas vom „Valtinche“ oder August Lemcke, Jahrzehnte nach ihrem Tod? Ihnen und vielen weiteren wackeren Menschen setzt der Autor ein verdientes Denkmal.

Es sind die kleinen Leute, die - neben der Eisenbahn - in diesem Buch die Hauptrolle spielen; die „Großen“ werden zu Statisten degradiert. Und so entwirft Karl-Ernst Maedel in seinen Geschichten ein facettenreiches Bild eben jener kleinen Leute in einer untergegangenen Welt und Zeit. Wer heute in einen Regionalexpreß oder gar ICE steigt, kann sich überhaupt nicht vorstellen, was Reisen in früheren Zeiten bedeutet hat. Vom Schnellzug bis hin zum „Beschleunigten Personenzug“ früheren Angedenkens und der 4. Klasse gleich gar, deren Wagen nach der Abschaffung derselben einfach ein anderes Wagenklassenschild erhielten, sonst aber unverändert blieben. Vom Menschenschlag, den man in solchen Zügen antreffen konnte, ganz zu schweigen.

Es mutet seltsam an zu lesen, wie der Autor über seine Jetztzeit (also etwa 1964) schreibt, wenn seine Beschreibungen gleichermaßen auf unsere heutige Jetztzeit zutreffen könnten. Es wird ein bißchen tragisch, wenn von der Nachtfahrt des Jahres 1941 berichtet wird, als der junge Maedel als Soldat nach Afrika geschickt war und nun erstmals Heimaturlaub bekam. Und fast schon gespenstisch, wenn einem einem Truppentransportzug im Januar 1945, feste auf der Fahrt zum Endsieg, plötzlich eine alte stehengelassene S6 auftaucht und die Gedanken in die Vergangenheit zu entfliehen beginnen, wann denn zum letzten Mal eine S6 gesichtet wurde - und was seither alles geschehen ist. „Zwanzig Jahre liegen dazwischen (...) die Studienzeit, Weimarer Republik Wirtschaftskrise, Machtübernahme, die Sieg-Heil-Epoche, Haß, Gewalt, Mord, Krieg, Bomben, ach, was kann sich in zwanzig Jahren alles ereignen!“ (S. 226)

Es ist ein weiter Bogen, über einige Jahrzehnte, den der Autor in seinen Geschichten schlägt, zusammengehalten durch seine Erlebnisse mit und um seine Reisen mit der Eisenbahn, in die immer wieder abschweifende Überlegungen einfließen wie etwa die vom „albernen Geschwätz vom technischen Fortschritt“, denn damit läßt sich auch „die Guillotine dem Galgen gegenüber vertreten“ (vgl. S. 48). In der ihm eigenen Art weiß Maedel um die Notwendigkeit der Entwicklung, des Fortschritts, nichtsdestotrotz schwingt unterschwellig eine leichte Melancholie über so vieles, was im Laufe der Jahre unter die Räder kam und verloren ging, mit.

Verschwunden auch die Marktfrauen, sie sind längst - soweit sie überhaupt noch existieren - motorisiert. Verschwunden die ‘ahlen Vattersch’ mit den langen Schmauchpiepen, verschwunden die Touristenklasse vierter Güte, die alten Klapperwagen, die winzig kleinen Maschinchen, die krummen Schienen, die --- nun, das Leben geht weiter.
Was ist eigentlich besser geworden?
“ (S. 63)

 

Mein Fazit

In seinem unnachahmlichen melancholisch-wehmütigen Schreibstil erweckt Maedel eine vergangene Zeit mit ihren Höhen und Tiefen, die das Dasein für den „kleinen Mann“, sei er auf der Lokomotive, sei er als Reisender im Zug oder auch jenseits des Bahndamms zu finden, mit sich brachte, zum Leben.

 

Über den Autor

Karl-Ernst Maedel wurde 1919 in Halle/Saale geboren. Kriegsbedingt mußte er sein Maschinenbaustudium abbrechen. 1955 floh er mit seiner Familie aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland, wo er fürderhin als Verwaltungsbeamter tätig war. Bekannt wurde er durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Eisenbahn, vornehmlich über Dampfloks, die teilweise in etliche Sprachen übersetzt wurden. 1962 gründete er die noch heute bestehende Zeitschrift „Lok Magazin“, deren Herausgeber er bis 1971 blieb. Viele seiner Bücher gelten längst als Klassiker ihres Genres. Er verstarb am 5. Juni 2004 in Worms.

Bibliographische Angaben

255 Seiten, etliche Illustrationen von Willy Widmann, gebunden mit Schutzumschlag
Die erste Auflage erschien 1964 in der Franckh'schen Verlagshandlung, Stuttgart
Verlag: Transpress Verlag, Stuttgart 1997. ISBN 978-3-613-71051-1

Cookies erleichtern bzw. ermöglichen die Bereitstellung unserer Dienste. (Bei der Nichtannahme von Cookies kann die Funktionsfähigkeit der Website eingeschränkt sein.)