In meinem Alter sehe ich, daß das Leben oftmals fantastischer und schrecklicher ist als die Geschichten, die wir als Kinder glaubten, und daß es vielleicht gar nicht so schlimm ist, Zauber zwischen den Bäumen zu finden.* (Seite 260)

Cover: The Snow ChildZum Inhalt

Jack und Mabel sind vor einigen Jahren nach Alaska ausgewandert. Nun ist es 1920 und sie haben immer noch auf ihrer kleinen Farm mit dem Überleben zu kämpfen. Und entgegen allen Wünschen und Hoffnungen haben sie auch keine Kinder.
Eines Abends vergessen sie ihr Elend und bauen ein Schneemädchen - das am nächsten Morgen verschwunden ist. Fortan erhalten sie regelmäßig Besuch von einem etwa neunjährigen Mädchen, das sich Faina nennt. Niemand weiß, wo dieses Kind her kommt, niemand weiß, wohin es nachts wieder verschwindet.
Die Jahre vergehen, Faina wächst heran, Jack und Mabel haben sich an sie gewöhnt. Aber irgendwann schlägt die Stunde der Wahrheit.

 

 

 

 

Meine Meinung

Es ist eine Weile her, daß ich dieses Buch ausgelesen habe, und daran mag man ersehen, daß mir eine Rezension nicht leicht fällt, da ich etwas zwiegespalten bin. Das Buch hat mir gefallen, keine Frage. Und dennoch hat es mich etwas unzufrieden zurück gelassen, so daß ich mir immer noch nicht über meine endgültige Meinung im Klaren bin. Das Problem dabei ist: um das zu begründen, müßte ich das Ende verraten, denn damit hängt es zusammen.

Die (bisher) beiden Bücher der Autorin habe ich in umgekehrter Reihenfolge gelesen, also ihr zweites zuerst. Vielleicht war das ungünstig, denn für mich ist ihr zweites deutlich besser und ausgereifter als dieses hier, insofern waren meine Erwartungen sehr hoch. Was die prinzipielle Handlung und vor allem die Erzählweise betrifft, wurden diese Erwartungen durchaus auch erfüllt.

Indem die Geschichte mit einem Paukenschlag beginnt, habe ich mich unwillkürlich gefragt „wie soll das Buch weiter gehen, wenn das jetzt Erfolg hat?“ Nun, ob und vor allem wie es weiter ging, möge man schon selbst lesen. Auf jeden Fall ist das einer der ungewöhnlichsten Buchanfänge, die mir je begegnet sind.

Normalerweise versuche ich vor dem Lesen eines Buches mir einen ungefähren Überblick über die Handlung zu verschaffen. Dies ist eines der wirklich ganz wenigen Bücher, bei denen ich nicht einmal das Bedürfnis hatte, den Fortgang wissen zu wollen. Und das, obwohl ich, eigentlich bis zum Ende, keine genaue Vorstellung davon hatte, wohin sich die Handlung entwickeln würde. Daher möchte ich auch hier zum Inhalt wenig bis nichts schreiben.

Was mich an dem Buch fasziniert hat ist einerseits die Stimmung, die die Autorin zu erzeugen in der Lage ist. Sehr schnell hatte sie mich damit eingefangen; ich fühlte mich versetzt in das Alaska des Jahres 1920, zu Jack und Mabel, die alleine ihre Farm bewirtschaften und den Ackerboden mühsam der Wildnis abringen. Man sollte meinen, die Frontier sei schon lange geschlossen, hier in Alaska war dies offensichtlich nicht der Fall. Immer wieder scheint durch, daß beide ungelöste Probleme aus der Vergangenheit mit sich herumschleppen, die irgendwann zutage treten müssen.

Andererseits die Vermischung von realer und irrealer Welt, das Auftauchen des Unerklärlichen, des Phantastischen, das eigentlich nicht sein kann - und doch leibhaftig da ist. Dieses Offenlassen gibt dem Leser Anreiz zu Spekulation, wie Manches zu verstehen - oder nicht zu verstehen? - ist. Das kannte ich auch schon aus dem zweiten Buch der Autorin, nur daß ich dies dort rund und in sich schlüssig empfunden habe, während es hier teilweise offen und zu vage blieb. Genau dies ist der Punkt, der mich etwas unzufrieden gelassen hat. Man muß sicherlich nicht immer alles erklären, doch zumindest sollte es für meine Begriffe in sich widerspruchsfrei sein. Das fand ich hier nicht so gut gelöst.

Mir fielen während des Lesens drei Bücher ein. Zum Einen „Navajo Nights“ von Vella Munn, zum Anderen die beiden Bücher von Don Coldsmith „Song of the Rock“ sowie „World of Silence“. In „Navajo Nights“ finden wir die Behandlung der indianischen Mythologie als etwas ganz Reales. Figuren wie Leser sind gezwungen, dies als Fakt hinzunehmen, weil sonst nichts erklärbar wäre. Das Buch bietet eine in sich absolut logische und geschlossene Weltsicht an. Die beiden Coldsmith-Bücher aus dem Spanish-Bit-Universum beinhalten im „Song of the Rock“ anscheinend übernatürliche Vorkommnisse, die in der „World of Silence“ jedoch ihre (psychologich-rationale) Erklärung finden und plötzlich gar nicht mehr übernatürlich sind. Jedenfalls fast nicht. Auf jeden Fall sind die, um es so zu bezeichnen, übernatürlichen Ereignisse innerhalb der Romane in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Man kann sie für die reale Welt für unwahrscheinlich halten, doch im Roman „funktionieren“ sie.

Daraus kann man schließen, daß ich mit übernatürlichen Phänomenen in Romanen keine Schwierigkeiten habe - wenn sie eben in sich schlüssig und innerhalb der Romanwelt folgerichtig sind. Und genau das habe ich in einem zentralen Punkt hier in diesem Buch vermißt bzw. erschien mir eben gerade nicht folgerichtig, sondern widersprüchlich. In ihrem zweiten Buch „To the Bright Edge of the World / Das Leuchten am Rande der Welt“ ist ihr diese widerspruchsfrei Einbeziehung solcher übernatürlichen Phänomene dann übrigens hervorragend gelungen.

Aber vielleicht liege ich auch falsch und bin dem Irrtum unserer Zeit verfallen, alles erklären können zu wollen. Oder wie schrieb ich in der Rezension zu „To the Bright Edge of the World“ („Das Leuchten am Rande der Welt“):
Und nur vielleicht kommt man am Ende zur selben Einsicht wie Josh, daß wir heutigen eine eingeschränkte Weltsicht haben und nicht mehr in der Lage sind, das Gesamtbild wahrzunehmen. (...) Vielleicht sollten wir unsere „Portion Arroganz“ ablegen, um eine Ahnung von der Schöpfung als Ganzer zu erhalten. Ohne, daß wir uns erst an den Rand der Welt begeben müssen.
Und vielleicht würde dann das Ende dieses Buches so glasklar und verständlich vor meinen Augen liegen, daß ich mich wundern würde, es nicht sofort verstanden zu haben.

 

Mein Fazit

Ein Roman, der das harte Leben vor hundert Jahren in der Wildnis Alaskas überdeutlich beschreibt. Ein Roman, voller Tragik, durchzogen von leiser Melancholie und dennoch nie deprimierend, sondern hoffnungsvoll. Einzig die Verbindung von „realer“ mit „irrealer“ Welt erscheint mir nicht ganz geglückt. Dennoch ein überaus lesenswertes Buch.

 

 

Über die Autorin

Eowyn Ivey wurde in Alaska geboren und lebt auch heute noch dort mit ihrer Familie. Nach dem Studium von Journalismus und kreativem Schreiben arbeitete sie als Journalistin und Buchhändlerin.

Originaltext und Bibliographische Angaben meiner gelesenen Ausgabe

* = In my old age, I see that life itself is often more fantastic and terrible than the stories we believed as children, and that perhaps there is no harm in finding magic among the trees. (S. 26)

440 Seiten, kartoniert
Verlag: Headline Publishing Group, London 2012; ISBN-13: 978-0-7553-8053-4

 

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